Dienstag, 22. Dezember 2015

Die Idee Israel. Mythen des Zionismus

Die Idee von Israel ist ein einzigartiges Unterfangen der gesamten israelischen Gesellschaft, angefangen von der politischen und medialen Klasse, über Kulturschaffende aus allen gesellschaftlichen Bereichen, die sich an der Erhaltung und dem Ausbau dieser Idee beteiligen. Die tragende Ideologie dieser Idee von Israel ist der Zionismus - eine immer noch zerbrechliche Idee. 

Ilan Pappe gehört zu Israels führenden revisionistischen Historikern. Er wurde von seinen zionistischen Kollegen ins britische Exil getrieben, wo er als Direktor des Europäischen Zentrums für das Studium Palästinas an der britischen Universität von Exeter tätig ist. Sein Buch "Die ethnische Säuberung Palästinas" sorgte für Aufsehen, da er darin an zahllosen Beispielen die systematische Vertreibung der Palästinenser durch zionistischen Kampfverbände dokumentiert hat.

Sein jüngstes Buch ist kein Geschichtsbuch, sondern eher ein Buch über die manipulative Macht von Ideen und Mythen. Die 1990er Jahre könnten als das Jahrzehnt der Post-Zionisten bezeichnet werden, als in einem Klima relativer Liberalität die historischen Unwahrheiten des zionistischen Gründungsnarratives anhand historischer Quellen in Frage gestellt werden konnten. Die Gegenreaktion wurde mit dem Zusammenbruch des Oslo-Prozesses, kulminierend in Ehud Baraks berühmt-berüchtigten "Angebots" in Camp David im Jahr 2000, eingeläutet. Im Zuge dieses Gegenwinds kehrten Historiker wie Benny Morris ins "Schoß" des zionistischen Mythenreiches zurück, andere hingegen verließen Israel.

Das Buch gliedert sich in drei Kapitel, beginnend mit Israel als einer wissenschaftlichen und fiktiven Idee, über Israels kurze postzionistische Phase bis zum neozionistischen Rollback. Pappe hält nichts vom Zionismus als einer jüdischen "Befreiungsbewegung", sondern sieht in Israel die Realisierung eines kolonialen Siedlerprojekts, das mit Hilfe des Westens den Palästinensern aufgezwungen worden sei. 

Der Autor behandelt in nur zwei Abschnitten die Tragik des palästinensischen Volkes, und zwar in einem Rückblick auf den Krieg von 1948 sowie der Instrumentalisierung des Holocaust. In den anderen Abschnitten zeigt der Autor die zentrale Rolle der Ideologie im Bildungssystem, den Medien, im Film und in den Beziehungen zwischen den europäischen und orientalischen Juden auf.

Von Beginn der zionistischen Kolonisierung wurden die Besitzer des Landes Palästina zu "Terroristen" aufgebaut, wovon "der Fremdling, der zum Terroristen wurde" Zeugnis ablegt. 2012 strahlte das israelische Fernsehen eine in französischer Koproduktion hergestellte Serie mit dem Titel "Die Geschichte des Terrors" aus, die die Wurzeln des "Terrors" im algerischen Befreiungskampf der FLN, in der kubanischen Revolution und in der palästinensischen Befreiungsbewegung PLO dingfest machte. Im letzten Teil der Serie befasste man sich mit Hamas, der palästinensischen Befreiungsorganisation, und dem Arabischen Frühling als noch offenen Kapiteln. 

Die Zurückdrängung der postzionistischen Ideen erfolgte bereits Mitte der neunziger Jahre durch die Gründung des "Shalem Centers", eines Thinktanks, durch Yoram Hazony, einem amerikanisch-jüdischen Wissenschaftler. In der Zeitschrift "Azure: Ideas for the Jewish Nation" wurde zum Kampf gegen die staatsgefährdenden Ideen des Postzionismus geblasen. Der Erfolg war durchschlagend: Innerhalb eines Jahrzehnts war dessen Agenda zu einer Idee geworden, auf der Israel im 21. Jahrhundert beruht. Sie hatte jedoch gar nichts mehr mit der Ideologie des liberalen Zionismus oder eines Arbeiter-Zionismus zu tun.

Die Kernidee dieser neozionistiischen Ideologie bildet "eine nationalistische, rassistische und dogmatische Version zionistischer Werte", die alle anderen Werte der Gesellschaft verdränge, und "jeder Versuch, diese Interpretation Israels zu kritisieren, gilt als Verrat", schreibt Pappe. 

Naftali Bennett, der Vorsitzende der rechtsextremen Partei "Jüdisches Heim", formulierte auf der "Sicherheitskonferenz" 2014 in Herzlia die Quintessenz dieses "neuen" zionistischen Selbstverständnisses wie folgt: "Ich weigere mich, israelisches Land an die Araber abzugeben. Wir müssen aufhören, uns bei der Welt zu entschuldigen. Es gab hier niemals einen palästinensischen Staat (...) Vor 2170 Jahren gab es einen Staat Israel hier; dies feiern wir an Hanukka." Den Palästinensern gebühre kein Staat, weil man auf "Mord, Terrorismus und Blut keinen Staat aufbauen kann". Ebenso könne man auf "Raketen und terroristischen Tunneln", die man nach dem israelischen Abzug aus Gaza gebaut habe, "keinen Staat aufbauen". 

Dieses neozionistische Paradigma garantiere die nationale und religiöse Einheit des Staates, so die Argumentation der rechtsnationalistischen Netanyahu-Regierung. Dieser religiös verbrämte rassistische Ethnozentrismus durchdringt alle Bereiche der israelischen Gesellschaft, angefangen vom Kindergarten bis in die Staatsspitze hinein. Apartheid wird zum Normalzustand, und die Palästinenser werden in allen gesellschaftlichen Bereichen zu Anwesend-Abwesenden, das heißt, sie sind gesellschaftlich irrelevant. 

Dagegen vertritt Pappe die Idee eines bi-nationalen Staates mit gleichen Rechten für alle seine Bürger. Für ihn ist der augenblickliche Zustand Israels nicht aufrechtzuerhalten, auch deshalb, weil die Netanyahu-Regierung Israel in einen Paria-Staat verwandelt, der sich nur noch auf sein erdrückendes Militärpotenzial verlassen kann. 

Eine überaus spannende, aber keine leichte Lektüre.

Zu beziehen hier. Erschienen auch hier.