Donnerstag, 21. November 2013

Es stand alles in der Zeitung

Die Behauptung, der überwiegenden Teil der Deutschen habe von den Nazi-Gräueltaten gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern nichts gewusst, ist nach der Lektüre dieser Studie über das Schicksal der Witzenhäuser Juden nicht nur falsch, sondern auch ein glatte Lüge, weil, wie der Titel schon sagt, alles in der Zeitung stand. Wer es wissen wollte, konnte es also lesen. 

Manfred Baumgardt, studierter Historiker und Diplom Politologe, ist in Hundelshausen, einem kleinen Dorf in der Nähe von Witzenhausen, aufgewachsen. Er entstammt einer katholischen Musikerfamilie. Sein Vater, Wilhelm Baumgardt, hat über Jahrzehnte für einen Hungerlohn in der katholischen Kirche die Orgel gespielt, und er war darüber hinaus auch noch Kommunist. Dass die Baumgardts vor diesem Hintergrund in einem protestantischen Milieu Außenseiter waren, versteht sich von selbst. 

Nach seiner Kaufmannslehre und dem Abitur auf dem zweiten Bildungswerk am Theodor-Litt-Kolleg in Kassel studierte der Autor Geschichte und Politikwissenschaft am Friedrich-Meinecke- und Otto Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Seine Diplomarbeit schrieb er bei Johannes Agnoli. Baumgardt hatte keine Chance als Gymnasiallehrer in Berlin zu reüssieren. Fortan engagierte er sich über Jahre in der Schwulenbewegung, und er hat seit 1985 in Eigenregie die bisher einzige Bibliothek samt Archiv zur Schwulenbewegung in Deutschland aufgebaut. Aufgrund von Intrigen und den üblichen Eifersüchteleien zog er sich aus dieser ehrenamtlichen Tätigkeit zurück. Er arbeitete auch über Magnus Hirschfeld, dessen „Institut für Sexualwissenschaft“ von den Nazis im Mai 1933 verwüstet worden ist.

Die Arbeit über das tragische Schicksal der Witzenhäuser Juden ist einem Krankenhausaufenthalt seiner Mutter zu verdanken, die er über Jahre bis zu ihrem Tode gepflegt hat. Hinter Buschwerk in der Nähe des Krankenhauses kam ein Gedenkstein zum Vorschein, auf dem zu lesen war: „Hier stand bis zum Jahre 1938 die Synagoge der jüdischen Gemeinde Witzenhausen.“ Auf dem Weg zum Jüdischen Friedhof erinnerte sich der Autor einer Inschrift, die er an der Umfassungsmauer der ehemaligen Kolonialschule und heutigen Ökologischen Agrarwissenschaften der Universität Kassel gelesen hatte: „An dieser Stätte fiel am 9. 11. 1938 die Synagoge dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer.“ 

Die Forschungsarbeiten zum Schicksal der Witzenhäuser Juden gestalteten sich alles andere als einfach. Es mussten viele bürokratische Hürden genommen werden. Auch mit der Auskunftsfreudigkeit der Witzenhäuser Bürger war es nicht zum Besten bestellt, was die Nazi-Vergangenheit ihres Ortes und ihrer Honoratioren betraf. Oft wurde der Autor mit der Frage konfrontiert: „Warum machen Sie das?“ Es gab aber auch andere, die bereitwillig Auskunft gaben. So konnte sich ein Bürger noch an den antisemitischen Slogan vieler Witzenhäuser erinnern: „Juden, Juden gebt uns Mazzen, sonst soll euch der Deiwel (Teufel) kratzen!“ Da sowohl das Erinnerungsvermögen der wenigen als auch die Bereitschaft zu Gesprächen der vielen sehr begrenzt war, musste sich Baumgardt auf Archivmaterial stützen. Das „Witzenhäuser Kreisblatt und Tageblatt“ ab 1933 erwies sich dabei als wahre Fundgrube. Nach einer ersten kursorischen Durchsicht fiel es dem Autor wie Schuppen von den Augen: Es stand alles in der Zeitung! 

Das Buch gliedert sich in zwei Abschnitte: Im ersten Teil folgt der Autor chronologisch und zielorientiert den Zeitungsquellen, um für die Leser einen gesellschaftspolitischen Überblick von 1933 bis 1943 erstehen zu lassen, wie nach dem Aufstieg Witzenhausens zur Kreisstadt, die Welt der jüdischen Bürger immer kleiner wurde. Auf perfideste Weise wurde den Witzenhäuser Juden durch bürokratische Mittel sprichwörtlich der Strick um den Hals immer enger gezogen, wie zum Beispiel durch die Veröffentlichung von „Gesetzen“, welche die Juden benachteiligten und zum Boykott und zur Schließung ihrer Geschäfte führten. Daran beteiligten sich nicht nur die städtischen und die Kreisbehörden, sondern auch die örtliche Kreissparkasse sowie das Finanzamt, und die örtlichen Honoratioren profitierten von der kalten Enteignung der jüdischen Witzenhäuser.

Der zweite Teil besteht aus Notizen zu einer biographischen Annäherung an die Witzenhäuser Juden. Dadurch beabsichtige der Autor, die einzelnen „Begebenheiten, Erniedrigungen, Zwangsmaßnahmen und Verbindungen zwischen einzelnen jüdischen Familien, Berufen, Freundschaften, Ehen, Briefen und Alltäglichem sowie Leben und Tod, dem entsprechenden Leben jeder einzelnen Person zuzuordnen“. Die infrage kommenden Seiten aus dem Stadtarchiv hat Baumgardt der Originalquelle vorangestellt, um sie so für sich sprechen zu lassen. Die durchweg antisemitische Konnotation der Texte wurde vom Autor mit richtig stellenden Erklärungen und Ergänzungen versehen. 

In dem abschließenden Kapitel geht der Autor der Frage nach, was die beschriebene Epoche bis heute unbeschadet überlebt habe. Seine Antwort: der Antisemitismus. „Der staatliche hetzerische Antisemitismus, verbunden mit seinen Tötungsanstalten, ist zwar überwunden, aber die Denkweisen vieler Menschen sind lediglich an das Jetzt und Heute gebunden.“ Immer wieder würden in der Nähe von Witzenhausen jüdische Friedhöfe geschändet. Ebenso lasse die Aufarbeitung der Vergangenheit mehr als zu wünschen übrig. 

Im Anhang befindet sich u. a. ein Schreiben von Max und Herta Verständig an die Familie Wallach vom 12. Mai 1939. Eine Zeittafel sowie das ausführliche Personen- und Sachregister stellen eine große Hilfe dar, sich in der Fülle der erwähnten Namen und Begriffe zurechtzufinden. 

Diese Studie gibt einen Einblick, wie in einer Kleinstadt mit den jüdischen Mitbürgern umgegangen worden ist. Die Schikanen, Misshandlungen, Enteignungen bis zur Deportation und schließlich der Ermordung hat es aber flächendeckend im „Dritten Reich“ gegeben. Manfred Baumgardt hat mit dieser verdienstvollen Arbeit ein weiteres Mosaik in der Aufarbeitung einer unsäglichen Vergangenheit geliefert, dem weitere lokale Studien folgen sollten. Das Buch sollte über den Insiderkreis hinaus eine weite Verbreitung finden, insbesondere im Bereich der schulischen und außerschulischen Bildung.

Manfred Baumgardt, Es stand alles in der Zeitung. Witzenhausen in der Zeit des Terrors, 1933-1945, Book on Demand, Hamburg 2013, 212 Seiten, 21,90 Euro, ISBN 978 3732281060; Taschenbuch und E-Book 16,99 Euro.