Freitag, 4. Mai 2012

Marlène Schnieper, Nakba – die offene Wunde

„Wir müssen die Realität sehen, dass Israel weder unschuldig noch erlöst worden ist. Und dass bei seiner Entstehung und Expansion wir als Juden das, was wir historisch erlitten haben, wiederum erzeugt haben, nämlich ein Volk von Flüchtlingen in der Fremde.“ Diese Sätze hat der Philosoph Martin Buber David Ben Gurion im März 1949 bei einem Treffen in dessen Haus in Tel Aviv vorgehalten, bei dem es um den moralischen Charakter des neugegründeten Staates Israel ging.

Das offizielle Israel ist von einer solchen Einsicht zwar noch meilenweit entfernt, aber die Einschätzung um die Ereignisse von 1948 hat sich bereits geändert. Dass die Palästinenser aus freien Stücken und auf die Aufforderungen ihrer Politiker das Land verlassen hätten, war bis weit in die 1980er-Jahre hinein die offizielle Meinung. Erst durch die Veröffentlichung des Buches von Benny Morris und anderer „neuer Historiker“ veränderte sich die Perspektive. Augenblicklich glauben 47 Prozent der Israelis, dass es eine Vertreibung gegeben habe, wohingegen 41 Prozent der Meinung sind, dass sich die Palästinenser das ganze Debakel selber eingebrockt hätten, wie es Marlène Schnieper, freischaffende Nahost-Korrespondentin und Autorin, formuliert. 

Die Nakba, die Katastrophe der Vertreibung, stellt für sie den Dreh- und Angelpunkt für die Lösung des Nahostkonfliktes dar. Dieses traumatische Ereignis, das die palästinensische Identität bis heute maßgeblich bestimmt, ist nicht vergessen, obgleich „die Alten“ gestorben sind, wie es einst Ben Gurion in seinem Tagebuch vermerkt hat; dies wird anhand von acht Interviews mit Nachgeborenen deutlich. Der „Transfer“ der arabischen Bevölkerung gehörte schon immer zum Gedankengut der zionistischen Bewegung, beginnend mit Theodor Herzl, so die Autorin. So solle die arme Bevölkerung „unbemerkt“ über die Grenze geschafft werden, und „das Expropriationswerk muss ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen“.

Die Aussagen der Interviewten werden immer wieder durch längere familienbezogene historische Diskurse bis in die Gegenwart hinein ergänzt. So kommen so unterschiedliche Charaktere wie Ahmed Yousef, Berater von De-facto-Ministerpräsident Ismail Haniya in Gaza, und Sari Nusseibeh, Präsident der Al-Quds-Universität in Ostjerusalem, zu Wort. Ginge es nach Yousef, so würde in Israel und Palästina ein Gebilde à la Schweiz entstehen, in dem Israelis und Palästinenser in je eigenen Kantonen leben würden, für die ein gemeinsames Parlament Gesetze erlassen würde.

Dem palästinensischen Narrativ stehe der israelisch-zionistische Narrativ gegenüber, der die Bindung des jüdischen Volkes an die historische Heimat sowie das Leid und das erlittene Unrecht dieses Volkes zum Ausdruck bringt, wie es der Politikwissenschaftler Shlomo Avineri ausdrückt. Er unterscheidet auch zwischen „historischer Wahrheit“ und „Narrativ“, der sinnstiftenden Erzählweise. Aber gerade die Befragung von Zeitzeugen (Oral History), welche die Autorin gewählt hat, gibt Einblicke in historische Vorgänge, die als Ergänzung der Dokumente zu verstehen ist.

Das Buch macht noch einmal schlaglichtartig deutlich, wie eng die Nakba mit europäischer Geschichte zusammenhängt und wie aus einem Volk mit Land, ein Volk ohne Land geworden ist. Ohne eine Aufarbeitung der Folgen der Nakba, d. h. der  Vertreibung der ursprünglichen Bewohner Palästinas, wird es keinen dauerhaften Frieden in der Region geben, mögen die Abbas-Mannen Israel auch jede politische Forderung von den Lippen ablesen. Sie besitzen keinerlei Legitimität im Namen der fast fünf Millionen Flüchtlinge in der Diaspora zu sprechen, geschweige denn zu handeln. Marlène Schnieper gebührt Dank, dass sie der palästinensischen Sichtweise auf überzeugende Weise eine Stimme verliehen hat, welche die Europäer zur Kenntnis nehmen sollten.