Samstag, 17. September 2011

Abels Gesichter, Palästina. Ethnische Säuberung und Widerstand

In der Reihe "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" ist nach den Themenbänden Auschwitz, Hiroshima, Vietnam, Lateinamerika als fünfter Band „Palästina“ erschienen. In dieser beeindruckenden Reihe weist der Verlag auf ein Verbrechen hin, welches die öffentliche Meinung zurzeit aufgrund gezielter Desinformation nicht als solches anerkennen will. Was vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit dem palästinensischen Volk geschieht, ist unvorstellbar, weil es durch die „einzige Demokratie des Nahen Ostens“ geschieht. Angeblich teilt und verteidigt Israel mit den klassischen Demokratien die so genannten westlichen Werte als „Villa im Dschungel“. Die Methoden, mit denen dies geschieht, haben mit Demokratie im westlichen Sinne wenig zu tun. Aber da Israels Protektor, die Vereinigten Staaten von Amerika, sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf einen Irrweg begeben haben, scheinen sie zu meinen, ihre Interessen seien identisch mit denen Israels.

Im Vorwort des Verlegers, Giuseppe Zambon, macht dieser deutlich, dass es den Verfassern, zu denen auch der im Gaza-Streifen getötete Vittorio Arrigoni gehörte, nicht leicht gefallen sei, Palästina in diese Reihe, die mit Auschwitz begann, als Thema aufzunehmen. "Denn wohlbegründete Schuldgefühle gegenüber den Juden wegen der furchtbaren Verbrechen des Nazifaschismus verhindern bis heute einen objektiven Blick auf die Verbrechen Israels.“ Die schon an Pawlowsche Reflexe grenzende Solidarisierung vieler Europäer und US-Amerikaner mit Israel sei jedoch kein spontaner Akt, sondern werde durch „Propaganda erzeugt“, mit der die Medien die Menschen überwältigten. Diese ungeheuerlichen Verbrechen während der Nazi-Barbarei wurden von Deutschen und ihren europäischen Kollaborateuren begangen, die sich immerhin als „Christen“ verstanden. Warum muss das palästinensische Volk für den Horror, der durch „Christen“ ins Werk gesetzt worden ist, bezahlen?

Der Autor weist auf die groteske Rechtfertigung der israelischen Verbrechen am palästinensischen Volk hin und die den Gipfel der Absurdität in dem Satz erreicht „Die Juden kehren in das Land ´zurück`, das Gott einst ihren Vätern verheißen hatte.“ Und wieder scheint Gott für "große Verbrechen" in Haftung genommen zu werden. Sind sich die Israels eigentlich bewusst, dass justament gerade die Palästinenser die Nachfahren dieser „Väter“ sind? Glaubt man Shlomo Sand, dann haben sich die in Palästina zurückgebliebenen Juden mit der aus dem Süden kommenden arabischen und muslimischen Bevölkerung assimiliert. Dies würde im Umkehrschluss bedeuten, dass die autochthone jüdische Bevölkerung Palästinas die heutigen Palästinenser sind.

Das Buch stellt eine einzigartige Dokumentation der „verbrecherischen Handlungen des israelischen Machtapparates an den Palästinensern und an Israel selbst“„ dar, schreibt Giuseppe Zambon. Es wendet sich an jeden, der wirklich glaubwürdige Informationen über die neuere Geschichte Palästinas sucht. Darüber hinaus richtet sich das Buch auch an die jüdischen Menschen in der Diaspora, damit sie die „politisch und kulturell untragbare Realität des heutigen Israel klar erkennen“ und daraus ihre politischen Konsequenzen ziehen: Gerechtigkeit und Frieden für das palästinensische Volk.

Das Buch ist einem frommen orthodoxen Juden, Israel De Haan, gewidmet. Er sei das erste jüdische Opfer des Zionismus gewesen, der 1924 auf Anordnung der Hagana getötet worden sei, weil er sich entgegen der zionistischen Politik für eine brüderliche und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Juden und Palästinensern eingesetzt habe. Auch der kanadische Historiker Jakov M. Rabkin hat diesen frommen Juden in seinem bahnbrechenden Werk „A Century of Jewish Opposition to Zionism“ hinreichend gewürdigt.

Im Gegensatz dazu ist von David Ben-Gurion wenig Friedensbereites überliefert: „Präventiv schlagen: man braucht nicht darauf zu warten, dass uns ein Dorf zuerst angreift.“ „Die Aggression ist jetzt unsere Art, tätig zu werden.“ „Kollektivstrafen verpassen, auch wenn Kinder darunter sind.“ „Den Frieden suchen, bedeutet Schwäche.“ „Warum sollten die Araber Frieden schließen? Wäre ich ein arabischer Führer, würde ich niemals mit Israel verhandeln. Das ist ganz natürlich: Wir haben deren Land genommen. Sicher, Gott hat es uns versprochen, aber was geht die das an? Unser Gott ist nicht deren Gott. Wir stammen aus Israel, aber das ist 2000 Jahre her, und was interessiert die das? Es gab Antisemitismus, die Nazis, Auschwitz, aber war das deren Schuld? Das Einzige, was die sehen ist: Wir kamen her und stahlen ihr Land. Warum sollten die das akzeptieren?“ Hier hat Ben-Gurion in wenigen Sätzen die Quintessenz der zionistischen Ideologie beschrieben. Gibt es deshalb noch keinen Frieden in Palästina?

Dieses außergewöhnliche Buch wurde von italienischen Autoreninnen und Autoren verfasst. Dies merkt der Leser auf jeder Seite. Die historische Darstellung orientiert sich an den tatsächlichen Fakten und nicht an der schrägen Präsentation der Geschichte, wie man sie aus zionistischen historiographischen Abhandlungen kennt. Auch findet man in diesem Buch nicht die verquaste Analyse der Geschichte Palästinas und Israels, die so typisch für die meisten deutschen Autoren ist. Ideologische Befangenheit war noch nie ein guter Ratgeber für einen klaren Blick auf historische Vorgänge, insbesondere diejenigen des Nahen Ostens.

In 16 Kapiteln wird die Geschichte Palästinas und des Zionismus erzählt, die Ihresgleichen sucht. Es werden unzählige historische Legenden des Zionismus zurechtgerückt, die bis heute als Mythen in den Köpfen westlicher Politiker und Lobbyisten herum spucken und für die Eintrübung des politischen Bewusstseins der westlichen Öffentlichkeit verantwortlich sind. So war z. B. die Balfour-Erklärung ein bewusst auf die Interessen der zionistischen Bewegung hin formuliertes Dokument, wie aus einem Interview des großen englischen Historikers Arnold J. Toynbee hervorgeht. Nicht ohne Grund habe man in diesem Brief nur von „bürgerlichen und religiösen Rechten“ der nicht-jüdischen Bevölkerung gesprochen, aber bewusst nicht von „politischen Rechten“.

Jedes der einzelnen Kapitel ist mit zahlreichen historischen und aktuellen Schwarz-Weiss Fotos bebildert. Alle sind „beeindruckend“; seien sie vom so genannten Unabhängigkeitskrieg und der Vertreibung der Palästinenser 1948, von der Zerstörungsmacht des israelischen Militärs während der über 40-jährigen Besatzungsherrschaft, den israelischen Luftangriffen auf den Libanon 2006 und des Massakers im Gaza-Streifen von 2008/09. Alle zeigen das wahre Gesicht einer Besatzungsmacht im 21. Jahrhundert, und dies scheint den Westen mit seinen „westlichen Werten“ überhaupt nicht zu stören.

Ugo Giannangeli macht in seinem Beitrag ein „weiteres Opfer des Zionismus“ aus: das Völkerrecht. Während der letzten Libanon-Invasion durch das israelische Militär sei „der Zusammenbruch sämtlicher internationaler Rechtsfunktionen für alle offensichtlich“ geworden. Die internationale Staatengemeinschaft habe dieser Zerstörung „dieses Mal gleichgültig“ beigewohnt. Dieser Angriff hatte den besonderen Segen der Bush-Administration. Die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen stehe generell zur Disposition, weil die Organisation nie gegen die israelische Nichtbeachtung von UN-Resolutionen eingeschritten sei. In Kürze wird die Weltöffentlichkeit wieder einmal einem Akt beiwohnen, bei dem die USA und ihre folgsamen Verbündeten dem palästinensischen Volk sein Selbstbestimmungsrecht auf einen eigenen Staat verweigern wollen. Es ist nicht zu erwarten, dass die USA endlich einmal eine souveräne Entscheidung im UN-Sicherheitsrat fällen, wenn Israel involviert ist.

Auf der Rückseite des Buches befindet sich ein beeindruckendes Statement des Rabbiners Mordechai Weberman, woraus folgender kurzer Ausschnitt stammt: „Wenn die Zeit kommt, wird die Gerechtigkeit wollen, dass es das palästinensische Volk ist, das darüber entscheidet, ob und in welcher Zahl die Juden auf ihrem Territorium bleiben dürfen. Dies ist der einzige Weg, der zu einer wirklichen Aussöhnung führen kann. Aber wir wollen noch mehr. Die Rückgabe der Länder an ihre legitimen Besitzer wird nicht ausreichen. Wir werden das palästinensische Volk klar und präzise um Vergebung bitten müssen; der Zionismus hat Euch verletzt, er hat Euch Eure Häuser geraubt und er hat Euch Euer Land geraubt.“

Dieses Buch in die Reihe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufzunehmen, war mehr als berechtigt. Wenn nicht auch Palästina, was denn sonst. Giuseppe Zambon und seine Mitstreiter/innen haben ein feines, zutiefst beeindruckendes Buch vorgelegt, das endlich einmal in Gänze die Palästina-Problematik historisch und dokumentarisch aufarbeitet und durch beeindruckende Fotos, Karten und zeichnerische Darstellungen von Folterszenen plastisch vor Augen führt. Als Resümee gilt: Die israelische Besatzungsherrschaft und die täglichen gewaltsamen Übergriffe der Militärbehörden berauben die Menschen in Palästina ihrer Würde und Menschrechte; sie degradieren sie zu Objekten einer militärischen Besatzungswillkür, um ihren Widerstandswillen zu brechen. Jeder, der den Konflikt unbefangen betrachtet, weiß, dass dies niemals geschehen wird. Dafür liefert dieses Buch ein beeindruckendes Drehbuch. Ein Muss für jeden an der Wirklichkeit dieses Konfliktes Interessierten.

Erschienen hier.