Sonntag, 3. April 2011

"Das Unberechenbare Deutschland"

Am 28. März 2011 erschien im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung der Beitrag des Ressortleiters Außenpolitik der SZ, Stefan Kornelius, "Das Unberechenbare Deutschland". Folgenden Leserbrief habe ich am 29. März an die Redaktion mit der Bitte um Abdruck gemailt. Für die interessierte Öffentlichkeit der Leserbrief in Gänze:

Als Leser der SZ habe ich mich gefragt, warum der Ressortleiter Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung (SZ) einen solch wichtigen Kommentar im Feuilleton platzieren musste und nicht im politischen Teil der Zeitung, über den er ein Prä als Ressortleiter haben sollte. Nachdem ich den Beitrag gelesen hatte, war mir klar, dass sich eine politisch kluge Außenpolitikredaktion mit einem solch schrägen Artikel nicht identifizieren konnte.

Kornelius versucht doch allen Ernstes, der Merkel/Westerwelle-Regierung den unsäglichen „deutschen Sonderweg“ anzudichten, nur weil diese Regierung souverän bei der Resolution im UN-Sicherheitsrat, der angeblich eine „No-Fly-Zone“ (Flugverbotszone) über Libyen einrichten sollte, mit Enthaltung gestimmt hat. De facto ist die „UN-Sicherheitsrats-Resolution 1973“ eine Kriegserklärung gegen Libyen. Auch Robert Gates, der US-Verteidigungsminister, hat dies so gesehen. Vielleicht erklärt dies auch die zögerliche Haltung der USA, sofort auf den kriegerischen Kurs von Nikolas Sarkozy aufzuspringen. Deutschland hat sich auch gerade deswegen der Stimme enthalten, weil es nicht durch diese verschleierte Kriegserklärung in einen Krieg hineingezogen werden wollte. Wider jede Sachkenntnis schreibt Kornelius: „Anders als im Fall Irak ist der Krieg in Libyen von den Vereinten Nationen legitimiert.“ Da irrt Herr Kornelius aber gewaltig. Der UN-Sicherheitsrat hat gerade diese Resolution nicht als Legitimation für einen Krieg gegen Libyen verabschiedet. Deutschland befand sich also in guter Gesellschaft, als es sich der Stimme enthalten hat, obgleich ein Nein angebracht gewesen wäre. Trotzdem braucht sich das Land nicht zu schämen, weil es sich zusammen mit Russland, China, Brasilien und Indien der Stimme enthalten hat; diese Länder repräsentieren fast die Hälfte der Weltbevölkerung.

Die beiden Alternativen, die der Ressortleiter Außenpolitik im Feuilleton der Zeitung vorstellen darf, sind keiner fachlichen Erörterung wert. Die erste Variante unterstellt eine Überforderung der deutschen Regierung, die einer Beleidigung gleichkommt. Deutschland hat doch wohl ein rational handelndes Außenministerium? Ob das AA den plötzlichen Schwenk der USA nicht richtig eingeschätzt hat, ist kein Entlastungsargument. Seit wann handeln die USA rational, wenn man sich den Überfall auf den Irak und den Aggressionskrieg gegen Afghanistan anschaut? Es macht keinen Unterschied, ob die USA von einem republikanischen oder demokratischen Präsidenten geführt werden, ihre Politik ist ideologisch verblendet, was den Nahen Osten betrifft. Einerseits wegen ihrer Nibelungentreue zu Israel, anderseits aufgrund ihrer Obsessionen gegenüber dem Islam.

Die zweite Variante, die Kornelius einführt, ist noch indiskutabler als die erste. Er versteigt sich zur Erfindung einer so genannten Westerwelle-Doktrin, die nichts anderes besage als „einen Populär-Pazifismus liberaler Prägung“. Dass für diesen politischen Unfug kein Platz im Politikteil der SZ war, ist mehr als nachvollziehbar. Diese abstruse „Doktrin“ macht Kornelius an Westerwelles Forderung nach Abzug der US-Atomraketen von deutschem Boden und an dem genannten Abzugstermin der deutschen Besatzungstruppen aus Afghanistan fest. Neben der Enthaltung beim Kriegseintritt gegen Libyen ordnet Kornelius die beiden zuletzt genannten Argumente Westerwelles Hang zum „Doktrinären“ zu. Westerwelles Kurs, wenn man davon überhaupt sprechen kann, ist nicht „doktrinär“ sondern eher wirtschafts- und anarcho-liberal. Westerwelle ist noch nicht einmal ein Kinkel-Verschnitt, nicht zu sprechen von einem Vergleich mit Hans-Dietrich Genscher.

Westerwelle Verdienst ist jedoch, endlich die rudimentären Ansätze einer souveränen Außenpolitik Deutschlands fortzusetzen bzw. wieder aufzugreifen, die unter der Kanzlerschaft Schröders begonnen worden sind. Auch in der EU sollte das Land endlich seine nationalen Interessen selbstbewusster vertreten. Nicht Niebel und de Maizière sind wegen ihrer Bedenken gegen diesen Aggressionskrieg zu tadeln, sondern der Ressortleiter Außenpolitik der SZ, weil er einen solchen mäßigen Beitrag im Feuilleton der Zeitung veröffentlicht hat. Deutschland würde endlich für seine Nachbarn berechenbarer, wenn es selbstbewusst seine nationalen Interessen in der EU und auf der internationalen Bühne vertreten würde. Dann würde auch das Gerede von der „incertitudes Allemagne“ aufhören. Übrigens: Nicht nur in deutschen Feuilletons scheinen sich die Bellizisten ein Stelldichein zu geben. Für einen an Geschichtsdeterminismus Glaubenden, scheint sich Geschichte nur in den Feuilletons zu wiederholen.