Donnerstag, 20. Januar 2011

Die Mär vom „Paradigmenwechsel“ im Nahostkonflikt

Die Debatte um Sinn oder Unsinn einer Einstaatenlösung als „Königsweg“ zur Lösung des Nahostkonflikts, wie sie von der so genannten Stuttgarter Erklärung vertreten worden ist, geht in die nächste Runde. Kein geringerer als der Historiker und Politikwissenschaftler Ilan Pappé ist der deutschen Szene intellektuell beigesprungen, um zu retten, was noch zu retten ist.

Die Kritik an der so genannten Stuttgarter Erklärung, in der eine Einstaatenlösung als Ziel für die Lösung des Nahostkonflikts angestrebt und dafür die BDS-Kampagne als Vehikel in Anspruch genommen wird, wurde als unredlich und dogmatisch kritisiert sowie als „Utopie“ bezeichnet, die nicht Grundlage einer aktuellen und notwendigen Kampagne sein kann, die den zionistischen Staat Israel unter Druck setzen und das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser befördern möchte. Den Vertretern einer Zweistaatenlösung wurde im Gegenzug ein dogmatisches Festhalten an der Zweistaatenlösung von den Verfassern/Innen attestiert, was auch vonseiten Ilan Pappés wiederholt wird, indem er deren Befürwortern ein „orthodoxes Herangehen“ attestiert.

Die Utopie einer Einstaatenlösung wird jetzt wissenschaftlich überhöht, indem man sie in den Status eines „Paradigmenwechsels“ erhebt, sie quasi damit gegen Kritik „immunisiert“ und als nicht mehr hinterfragbar erklärt. Dabei ist die Idee der Einstaatenlösung ein uralter Hut und historisch gescheitert. Sie wurde jetzt aus Hilflosigkeit aus der Asservatenkammer der historischen Reminiszenzen heraus gekramt, neu drapiert und als „Paradigma“ der Öffentlichkeit wie ein Deus ex machina präsentiert. (In Parenthese sei für die wissenschaftlich-interessierten erwähnt, dass von einem Paradigmenwechsel erst dann gesprochen werden kann, wenn das „alte“ Paradigma wissenschaftlich falsifiziert worden ist oder die Vertreter eines solchen „ausgestorben“ sind.) Davon kann jedoch keine Rede sein, da im Augenblick das „alte“ Paradigma der Zweistaatenlösung fröhliche Urstände auf der internationalen Bühne feiert.

Dass gerade Ilan Pappé als Kronzeuge für die Einstaatenlösung im Nachhinein in den Ring geschickt wird, verwundert sehr. In seinem Artikel über einen so genannten „Paradigmenwechsel“ hat er eine Einstaatenlösung im Rahmen der BDS-Kampagne nur am Rande erwähnt, ohne sich wirklich explizit dafür auszusprechen. In seinen interessanten Vorträgen in Stuttgart und der Podiumsdiskussion erwähnt er die Einstaatenlösung mit keinem Wort. Pappé spricht über Kolonialismus, Zionismus, ethnische Säuberung und das Konzept der „ethnischen Reinheit des Staates Israel“ und dessen Verbindung zum Rückkehrrecht der Palästinenser.

Sein wichtigstes Argument richtet sich gegen den Zionismus. Die zionistische Ideologie stellt das Haupthindernis für eine friedliche Lösung des Nahostkonfliktes dar. In dieser Frage gibt es keinerlei Dissens zwischen ihm und dem „orthodoxen Herangehen“. Dass der israelisch-palästinensische Konflikt ein Kolonialkonflikt ist, bestreitet auch niemand; und dass der Zionismus irgendwelche guten Eigenschaften hat, wird nur von seinen Protagonisten behauptet. Für die Kolonisierten bedeutet diese Ideologie die fast totale Zerstörung ihrer Existenz in ihrem Heimatland.

Die Aktionen der BDS-Kampagne sollten also die politischen und ökonomischen Kosten der Okkupation und die Kooperation der Staatenwelt mit den Kolonisatoren so in die Höhe treiben, dass sie für niemanden mehr tragbar sind. Ihr Ziel muss auf die nationalistisch-ethnozentrische Ideologie des Zionismus gerichtet sein, die dem klassischen westlichen Demokratieverständnis diametral entgegensteht. „Jewish and democartic“ ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Die Vertreter einer Einstaatenlösung sollten die israelisch-zionistische politische Elite fragen, ob sie überhaupt willens ist, den Staat Israel, der auf einer zionistischen Gesetzgebung und deren Implementierung beruht, in den Nahen Osten zu integrieren, geschweige denn aufgehen zu lassen?

Auch in seinem autobiographischen Werk „Out Of The Frame“ erwähnt Pappé mit keinem Wort eine Einstaatenlösung als Konfliktlösungsmodel, ebenso wenig in seinem jüngsten Interview in der Wochenzeitung „Der Freitag“ vom 16. Januar 2011. Im seinem Epilogue-Kapitel „Project: Disarm Israel“ geht es nicht um Einstaatenlösung, die das Ende Israel als Staat bedeuten würde, was Pappé, wie ich vermute, bestimmt nicht will, sondern um den Hauptkontrahenten des Judentums, den Zionismus und dessen zionistisch-kolonisatorisches Projekt in Palästina. „I do not recall the precise moment of awakening, but there was such a moment when the un-Jewishness and immorality of the project became clear to me. I did, and still equate Jewishness and morality, not as superior to any other position, but rather a comfortable heritage I belong to and I can rely on when making moral judgments. And from this perspective, the Zionist project abused this kind of Judaism and this kind of morality. Worst of all was the Zionist and later Israeli abuse of the Holocaust memory to justify the dispossession of Palestine that disconcerted and outraged me. The abuse is obvious and yet so many today can still not see it. It was the departure point human and Jewish that recently led so many Jews to oppose crimes and policies done in the name of the state of Israel.” Pappés Projekt der “Entwaffnung Israels” bedeutet eine “ideologische Entwaffnung”, d. h. eine Entzionisierung Israels, aber nicht seine Zerstörung oder Auflösung. Die Einstaatenlösung ist vermutlich auch für ihn nur „a dream“ von einer guten Welt ohne bösen Staat, ein Neuanfang, der vielleicht Land Palästina heißen wird, wenn man seine Auseinandersetzung um Land und Staat so verstehen kann.

Ilan Pappé hat auf der Stuttgarter Konferenz auch über den Skandal des 21. Jahrhunderts gesprochen, und zwar die israelische Besetzung und fortdauernde Kolonisierung Palästinas. Den Aktivisten empfiehlt er, einen intensiven Dialog mit Israel zu führen, das sich als Teil der „zivilisierten“ Welt versteht, bei gleichzeitiger Beibehaltung seines „racist and supremacists“ Charakters. Wer das „Zionist mindset“ (Pappé) nicht versteht, wird auch keinen Erfolg bei der Lösung des Nahostkonfliktes haben, sei es in einer Ein- oder Zweistaatenlösung.

Die Frage wird nicht beantwortet, wer den das neue Paradigma machtpolitisch realisieren soll. Man liefert nur einige Schlagworte als Überschrift, ohne diese mit substanziellem Inhalt zu füllen. Gerade läuft auf der internationalen Ebene eine bisher nicht gekannte diplomatische Anerkennungswelle des Staates Palästina. Es wird darüber spekuliert, ob nicht sogar die USA einen Staat Palästina 2011 diplomatisch anerkennen werden. Außer einigen Aktivisten spricht niemand auf der Welt über eine Einstaatenlösung. Bis auf eine Handvoll Israelis halten fast 100 Prozent der Israelis diese Idee für einen „schlechten Witz“. Israelische Freunde/Innen gaben mir auf die Frage nach einer Einstaatenlösung zur Antwort: „Are you kidding?“ (Willst Du mich auf den Arme nehmen?) Bevor die Einstaatenlösung umgesetzt werden kann, muss zuerst eine „Deprogrammierung“ des politischen Bewusstseins der Israelis stattfinden, die Pappé (für sich) so wunderbar vollzogen und in Stuttgart geschildert und in seinem Buch beschrieben hat.

Wer nur das „Heil“ in einer Einstaatenlösung sieht, nimmt dem palästinensischen Volk die Möglichkeit, sich frei für seine Zukunft zu entscheiden. Das Recht auf Selbstbestimmung steht den Palästinensern ebenso zu wie den Israelis. Erst wenn erstere zu ihrem Recht gekommen sind, haben sie die Möglichkeit, sich für andere Optionen zu entscheiden. Die Solidaritätsbewegung will doch nicht ernsthaft klüger sein als der kollektive Wille des palästinensischen Volkes! Auf deutsche Bedenken und Skrupel sollte generell niemand Rücksicht nehmen, da sie in Bezug auf den Nahostkonflikt unpolitisch, sprich einseitig sind. „Stuttgart war eine Station. Der Zug fährt jetzt woanders weiter“, wie es Pappé euphemistisch umschreibt. Hoffentlich fährt er nicht nach Nirgendwo.