Dienstag, 6. April 2010

Palestine on my Mind

Die Idee zu diesem Buch ist dem Herausgeber anlässlich einer Mahnwache der Straßburger „Frauen in Schwarz“ gekommen, als ihm eine Passantin die Frage stellte: „Warum kümmern Sie sich denn um Palästina, warum nicht um Darfur, Tschetschenien oder Tibet?“ Die Antwort auf die tragische Geschichte des palästinensischen Volkes ist eine europäische, wie die Liste der Beiträger/Innen zeigt. „Nie wieder! Nie wieder schweigen bei Diskriminierung aufgrund von Zugehörigkeit, sei es rassische, religiöse, weltanschauliche!“ Dazu schreibt der Herausgeber: „Die Zeit ist reif, Apartheid zu überwinden. Was in den Vereinigten Staaten von Amerika, was in Südafrika möglich war, auch im historischen Palästina kann es Wirklichkeit werden.“ Jeder der Autoren/Innen schreibt etwas über seinen bzw. ihren Zugang zum Thema Israel/Palästina.

Der Band enthält den hervorragenden Beitrag des kanadischen Historikers Jakov Rabkin, den dieser in der Frankfurter Allgemeine Zeitung kurz nach Angela Merkels Israelbesuch veröffentlichen durfte und in dem er sich kritisch mit deren Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament, auseinandergesetzt hat. „Viele Deutsche meinen es gut, aber sie verwechseln Juden, die im Holocaust wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu leiden hatten, mit dem Staat Israel, der als eine Ethnokratie für die Juden erdacht wurde.“ Und über die Merkel-Rede merkte er an: „Deutschlands Kniefall vor dem Staat Israel speist sich aus dem Mythos, Israel repräsentiere die Juden in aller Welt und sei ihre natürliche Heimat. Statt Israel wie ein kollektives Opfer des Holocaust zu behandeln, sollte Deutschland es als ein Land des Mittleren Ostens begreifen, das seine eigene Geschichte, seine eigenen Interessen und Werte besitzt. Deutschland sollte Israel behandeln wie jedes andere Land in der Region: nach seinen Verdiensten. Das würde dazu beitragen, dass der Traum der zionistischen Gründungsväter wahr würde: Das Israel eine normale Nation wird.“ Folglich sind jede Zuschreibung eines Sonderstatus oder die Verweigerung der Normalität im Grunde genommen Formen des Antisemitismus.

Allen Autoren/Innen liegt das Wohl Israels am Herzen, aber alle fordern, dass auch dem palästinensischen Volk Gerechtigkeit und Genugtuung für die erlittenen Leiden und Ungerechtigkeiten widerfahren müsse, die die zionistische Bewegung und seit 1948 der Staat Israel über es gebracht habe. „Nein, es geht mir nicht nur um die Rechte der Palästinenser, es ist die Sorge um die Zukunft und das Schicksal beider Kontrahenten, der Israelis und der Palästinenser, die mir keine Ruhe lässt“, so Sigrid Langhaeuser. Mit ihr sind sich Hajo Meyer, Felicia Langer, Evelyn Hecht-Galinski, Abraham Melzer, Rupert Neudeck, Gerhard Fulda, Sophia Deeg, Sabine Matthes, Ruth Fuchtman und Rolf Calebow mit allen anderen einig. Wenn einige Vertreter der „Israellobby“ (John J. Mearsheimer/Stephen M. Walt) diese Namen hören, reagieren sie wie der Pawlowsche Hund: alles „Antisemiten“, „jüdische Selbsthasser“ oder wie die denunziatorischen Termini auch sonst lauten mögen. Dass diese Personen damit leben gelernt haben, zeichnet sie aus. Für einige gereicht es bestimmt zur Ehre, haben sie doch nur auf Selbstverständlichkeiten im Fehlverhalten der diversen israelischen Regierungen hingewiesen, auf die diese Kreise nur mit Verleumdungen in der Lage sind zu reagieren. Mit diesen Enttäuschungen und Frustrationen müsse man leben, gehe es doch nach Claire Paque um den „Zionismus und seine Folgen, die wir infrage stellen“. Eigentlich sind es gerade diese Menschen, die die Lehren aus den Verbrechen des Naziregimes gezogen haben.

Den größeren Zusammenhang, in dem das Israel-Palästina-Engagement nur ein Teil darstellt, macht Sophia Deeg deutlich. In den global agierenden Widerstandsbewegungen gehe es von Darfur, über Palästina, gegen Rechtsextremismus und Rassismus in Deutschland und in der Welt. Diese unterschiedlichen Engagements seien in Wahrheit „EINES“. Diese Erkenntnis gründe in ihrer Schock-Erfahrung als Teenager in den 1960er Jahren, als ihr bewusst wurde, das es historisch „gerade eben“ und „gleich nebenan“ eine „unvorstellbare kalte Barbarei“ gab, die einen höchst elaborierten mörderischen Rassismus mit tiefen europäischen Wurzeln erfand, „der in systematischer Diskriminierung, Entrechtung, Verfolgung und Ermordung ganzer Menschengruppen mündete, die man als grundsätzlich anders, dann als minderwertig und schließlich als jenseits der Menschheit definiert hatte“.

Auch heute wird wieder eine „Minderheit“, die immerhin über 1,2 Milliarden Menschen zählt, stigmatisiert, dämonisiert und dehumanisiert, und dies wieder durch den „zivilisierten“ Westen. „Die Verhältnisse waren nicht grundsätzlich andere. Und sind es auch heute nicht“, so Sophia Deeg. Nach Meinung der Autorin haben sich „tribale Kategorien und Diskurse“ in den 1990er Jahren rapide in den Vordergrund gedrängt. Es seien die Diskurse der medial und politisch Tonangebenden und der Vertreter politischer Klassen und ihrer Vordenker. „Eine verheerende Rolle spielt dabei die Propaganda des Staates Israel, der sich unablässig als ´jüdischer Staat` nicht nur bezeichnet, sondern ausgerechnet diese tribale Definition eines Gemeinwesens, den monoethnischen Staat, als die einzig mögliche und legitime Konsequenz aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hinstellt und sie praktisch so umsetzt, wie ein solches Modell anders nicht umzusetzen ist: mit rassistischer Diskriminierung, Entrechtung, Dehumanisierung, Vertreibung und blanker Gewalt.“

Die Bundesrepublik spiele dabei wieder einmal eine unrühmliche Rolle, weil in „Deutschland die staatliche, israelische Propaganda glatt durchgeht, gebetsmühlenartig nachgeleiert wird (wie in Israel selber nicht)“. Eine solche Haltung sei vorherrschend in allen Parteien, Gewerkschaften, in den einschlägigen Fachbereichen der Universitäten, bei öffentlichen Kundgebungen und was für die Autorin von besonderem Übel ist, in denjenigen Institutionen, die sich mit den Themen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus auseinandersetzen sollten, und dies treffe insbesondere für linke Kreise zu. Am Ende ihres Beitrages begründet Deeg, warum sie sich stärker für Israel/Palästina als für Darfur engagiert: „Aufgrund der Verquickung der persönlichen politischen Bewusstseinsgeschichte und dessen, was in Israel/Palästina heute geschieht und wie es hierzulande tagtäglich in einem aufdringlichen, überdimensionalen Zerrspiegel grotesk entstellt dargestellt wird, komme ich nicht umhin, mich mehr mit Israel/Palästina zu beschäftigen als mit Darfur.“ Auch bei den globalen Widerstandorganisationen, die sich gegen die neoliberale Globalisierung und ihre Kriege, Terror- und Besatzungsregime zu Wehr setzen, stehe der Kampf für die Rechte der Palästinenser oben auf der Agenda.

Besonders beeindruckend ist die Abfolge der Bilder über ein Jahrhundert, die von Tausendundeiner Nacht bis zum Horror der israelischen Besatzung reichen. Mit „Palestine on my Mind“ ist es dem Herausgeber gelungen, ein Kaleidoskop von Personen und deren Motive für ihr Israel-Palästina-Engagement zu vereinen. Ob dieses Buch die politische Elite und die Israel-Protagonisten zum Nach- oder gar zum Umdenken bewegen kann, muss die Zukunft zeigen. Ein „Weiter so!“ in der deutschen Nahostpolitik darf es nicht geben. Das Buch trägt zur Enttabuisierung dieses Themas bei und leistet damit einen Beitrag, die ungeheuerliche Wirklichkeit des dortigen Zustandes wahrzunehmen und in konkretes politisches Handeln umzusetzen. Dieses Buch eignet sich besonders als Hörbuch, da alle Texte in einem sehr persönlichen Duktus abgefasst sind und gesprochen dem Anliegen noch dienlicher wären.

Erschienen in: SEMITedition, Neu-Isenburg 2010, 18 Euro.