Dienstag, 9. Juni 2009

Gaza - ein Land ohne Hoffnung?

Es ist wohl einer der unwirtlichsten Ort auf dieser Erde: der Gaza-Streifen. Als der so genannte Friedensprozess 1993 ausbrach, schwärmte unter anderen der Generaldelegierte der Palästinenser in Deutschland, Abdallah Frangi, Gaza werde das Singapur des Nahen Ostens. Die Illusionen auf Seiten der Palästinenser waren zu diesem Zeitpunkt grenzenlos. Wer damals einen kühlen Kopf behielt und sich nicht von den süßlich tönenden „Friedensschalmeien“ betören ließ, konnte beim Überfliegen der ersten Abkommen bereits sehen, wohin die Reise ging: nach Nirgendwo. „Singapur“ wurde nicht errichtet, und der ärmliche Rest wurde während der 22-tägigen Auseinandersetzung zwischen der israelischen Armee und der Bevölkerung des Strips in Schutt und Asche gelegt. 1.400 tote Palästinenser zumeist Zivilisten - mehrheitlich Frauen und Kinder - starben durch den Dauerbeschuss der israelischen Armee unter Ausschluss der Öffentlichkeit; ein Verhältnis von 1:100.

Bettina Marx, langjährige Hörfunkkorrespondentin der ARD für Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete, hat über Gaza ein Buch vorgelegt, das jeden Leser/in erschaudern lässt. Es ist gruselig und unglaublich, was dort zu lesen ist. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit läuft ein Horrorfilm ab und fast alle geht achselzuckend ihres Weges. In all dem Elend gibt sie aber auch den Bewohnern ihre Würde zurück, indem sie zeigt, dass dort Menschen und keine „Frankensteins“ oder „Terroristen“ leben. Der südafrikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu hat den Gaza-Streifen „das größte Freiluftgefängnis der Welt“ genannt. Das Gebiet ist hermetisch durch eine monströse Mauer und einen Zaun umgeben. Alle Grenzübergänge sind geschlossen, die Schlüssel dazu haben die Israelis. Der Luftraum wird von israelischen Kampfflugzeugen und Hubschraubern überwacht. An der Küste patrouilliert die israelische Marine. Aber selbst die Siedler kommen zu Wort, die ihr angeblich von Gott gegebenes Recht auf das Land als „Legitimationsgrundlage“ für ihre zahlreichen Völker- und Menschenrechtsverstöße anführen.

Der hypermoderne Grenzübergang Erez wurde von der niederländischen Firma Interwand futuristisch und „benutzerfreundliche“ entworfen. Das Gesamtkunstwerk wurde auf der Internetseite als transparent und für die Grenzgänger als „eine Verbesserung ihrer täglichen Lebensqualität“ bezeichnet. Diese völlig abwegige Beschreibung des Terminals kommt einer zynischen Verhöhnung der in Gaza eingesperrten Menschen gleich, so Bettina Marx. Was sich dort Tag für Tag abspielt, stellt eine Demütigung der Menschen ohne gleichen dar. Die Autorin beschreibt die ganze Unmenschlichkeit dieses Übergangs und den Nichtumgang der israelischen Grenzbeamten mit den Insassen dieses „Freiluftgefängnisses“. Hier werden die „Menschen wie Vieh zu den Kontrollpunkten geschleust“, und durch Durchleuchtungsgeräte, „so genannte Nacktscanner“ elektronisch völlig ausgezogen. Marx berichtet von einem Fall, als sich ein junger krebskranker Palästinenser in ihrer Anwesenheit über Lautsprecher aufgefordert wurde, sein Hemd hochzuheben und sich dann auszuziehen. „Glücklicherweise durfte er seine Unterhose anbehalten.“

Die Autorin berichtet über alle Facetten der Geschichte des Gaza-Streifens und das Leben der Bewohner, die größtenteils Flüchtlinge und Vertriebene des 1948er Krieges sind. Trotz des Elends und des Chaos, das die 42-jährige israelische Besatzung den Menschen bereitet hat, haben diese sich noch ihre Menschlichkeit bewahrt. Davon zeugen die zahlreichen beeindrucken Geschichten. Es ist ein Alltag unter permanentem Ausnahmezustand. Sie lässt aber auch keinen Zweifel aufkommen, wer für sie der Aggressor ist und für das Scheitern der diversen Friedensbemühungen die Verantwortung trägt. Sie bildet da eine rühmliche Ausnahme unter den Hundertschaften von Journalisten, die eher mit angezogener Handbremse oder deutscherseits mit „deutlicher Schlagseite zugunsten Israels“ schreiben und damit der Wahrheit einen Tort antun.

So entzaubert sie zum Beispiel den Mythos, dass Arafat am Scheitern von Camp David Schuld trage. Das israelische Mantra vom fehlenden Partner für den Frieden war eine Erfindung Ehud Baraks, die kritiklos vom linkszionistischen Friedenslager und den Kommentatoren in den USA und Europa nachgeplappert worden ist. Arafat war nur nicht bereit, diesen Oktroy zu akzeptieren. Auch Baraks Angebot, den Palästinensern die Souveränität über den Tempelberg zu überlassen, „stellte sich als reine Luftblase heraus“. Seine Mitverantwortung beim Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada ist enorm. Kurz darauf brachte Ariel Sharon Barak eine vernichtende Wahlniederlage bei. Mit Sharon wurde das Chaos noch größer, was Bettina Marx sehr schön belegt.

Die Bilder, welche die Öffentlichkeit aus dem Gaza-Streifen erreichen, zeigen immer eine Mixtur aus Gewalt und Fanatismus, Schmutz und Elend. Hinzu kommt das Image der Hamas als Terrororganisation. Dazu haben die zahlreichen Selbstmordattentate ihren Beitrag geleistet und dem Anliegen der Palästinenser auf nationale Selbstbestimmung schwer geschadet. Für eine objektive Berichterstattung werden den Korrespondenten von allen Parteien Knüppel zwischen die Beine geworfen. Die Autorin berichtet von den Einschüchterungsversuchen der Hamas und der Fatah von Mahmoud Abbas gegenüber Journalisten, denen man Sympathien für die jeweils andere Seite unterstellt. Unter Arafat seien die Angriffe auf Journalisten selten gewesen, heute gehören sie zum Alltag.

Eine seltsame Rolle auf israelischer Seite spielte der langjährige Chef des Regierungspresseamtes in Jerusalem Danny Seaman. Dieser verstand sich als Wächter „israelischer Interessen“ und die Journalisten, die er betreuen sollte, „als Feinde, die er bekämpfen oder doch zumindest kontrollieren musste“. So schreib Marx, dass Seaman nicht nur ausländische Journalisten beschuldigte, einseitig zu berichten, er warf ihnen auch „gelegentlich Antisemitismus vor und schreckte auch nicht davor zurück, sie als Nazis zu titulieren“. Den Korrespondenten der FAZ, Jörg Bremer, bezeichnete er als „ein Stück Scheiße“, was er aber nur „off the record“ gesagt habe, wie er in einem Gespräch mit dem ARD-Hörfunk anmerkte. „Bei einer so paranoiden Einstellung verwundert es nicht, dass Seaman im Herbst 2002 durchzusetzen versuchte, dass sich alle Journalisten, die eine Pressekarte beantragten, einer Untersuchung durch den israelischen Inlandsgeheimdienst Shin Bet unterziehen müssten.“ Dieses Ansinnen musste auch auf Druck der israelischen Medien fallen gelassen werden. Auch mit CNN und der BBC legte er sich an.

Die Autorin erwähnt auch noch zwei Studien, welche die Berichterstattung über den Nahostkonflikt in den deutschen Printmedien untersucht haben. Eine wurde von einem fragwürdigen Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung durchgeführt und vom American Jewish Committee bezahlt. Das Ergebnis war nach dem Motto gestrickt „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Die Schlussfolgerungen sind abenteuerlich und haben nichts mit Wissenschaft, sondern nur mit Ideologie zu tun. Zu den „wissenschaftlichen Ergebnissen“ schreibt die Autorin: „Nein, die Palästinenser erscheinen nicht `in der Rolle der Opfer`, sie sind die Opfer. Sie sind die Opfer einer mehr als vierzigjährigen Besatzung und Unterdrückung.“ Auch die anderen Bewertungen der Autorin über diese „wissenschaftliche“ Studie sind lesenswert.

Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Sara Roy hat 1995 ihre Studie „The Gaza Strip. The Political Economy of De-development“ vorgelegt. Sie hat wissenschaftlich nachgewiesen, dass die israelische Besatzungsmacht systematisch die De-Entwicklung dieses Gebietes betrieben hat. Bettina Marx hat eine Lücke auf journalistischem Gebiet geschlossen, indem sie ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nachgekommen ist, und zwar trotz widriger Umstände und politischem Druck wahrheitsgemäß berichtet hat, auch wenn dies bestimmten politischen Kreisen nicht passt oder gepasst hat. Für diese Leistung gebührt ihr Annerkennung, und es ist ihrem Buch eine große Leserschaft zu wünschen.